Chronik zu Ober-Seemen
Ober-Seemen liegt am südwestlichen Abhang des Vogelsberges und ist seit Dezember 1970 ein Stadtteil von Gedern. Das Dorf bildet die Grenze des eigentlichen „hohen Vogelsberges“. Unter dem Namen Ober-Siemene wird Ober-Seemen 1320 das erste Mal urkundlich erwähnt. Der Ortsname leitet sich aus der Bezeichnung Seemenaha ab und bedeutet so viel wie „Binsenbach“.
Kirchengemeinde und Kirche
Die Kirche Ober-Seemen liegt geschützt vom Dorfkern im Mittelpunkt des Dorfes, wobei sie bis zum 2. Weltkrieg am nordwestlichen Rand des Dorfes lag. Seither ist Ober-Seemen um seine Kirche herumgewachsen.
Im 14. Jahrhundert war Ober-Seemen zusammen mit Mittel-, Nieder-Seemen und Volkartshain eine Filialkirche von Gedern. Aufgrund von Balkenuntersuchungen im Kirchendach der heutigen Kirche konnte die Bauzeit des noch bestehenden Chorraums auf das Jahr 1339 datiert werden (Reck, 2010). Es wird in der Untersuchung weiter angenommen, dass das Schiff schon vor 1339 ohne Chorraum oder mit einer Halbkreisapsis bestanden haben könnte. Damit hat die Kirche eine fast 700 jährige Geschichte und steht unter Denkmalschutz. Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche bis zur Reformation ist neben teilerhaltenen Fresken im Chorraum noch deutlich an den vom Boden zur Decke aufsteigenden Spitzbögen, die ihren Abschluss in einem „Osterlamm mit Siegesfahne“ tragenden Schlussstein finden, zu erkennen.
Da die Pfarrei Gedern unter ihrem damaligen Pfarrer Geiß um 1535 lutherisch wurde, folgte Ober-Seemen als Filialkirche ebenfalls. Die Einführung der Reformation 1535 war das Werk des Grafen Ludwig von Stolberg (Seipp, 1950).
Ab 1595 bestand in Ober-Seemen dann nachweislich eine eigene Pfarrei, die bis 1724 auch Mittel- und Nieder-Seemen umfasste. 1601 fällt Ober-Seemen der Grafschaft Stolberg-Roßla zu und steht seit 1806 unter hessischer Oberhoheit. Bis heute ist der Fürst zu Stolberg-Roßla der Patron der Kirche in Ober-Seemen. Die Kirchenbücher beginnen im 1649, was darauf schließen lässt, dass frühere Bücher mit dem 30 jährigen Krieg verloren gingen.
1724 werden die beiden Filialorte Mittel-und Nieder-Seemen abgetrennt, der Chronist berichtet darüber: „ Anno 1724 Dom. I. Adv. ist aus episkopalischer Gewalt unseres dermaligen regierenden Herrn, Herrn Grafen Jost Christian zur Erleichterung des Pfarrers die Pfarr getheilt worden, und die Kirche zu klein, die Leute zu fassen, so daß nunmehr die Ober-Seemer Pfarr von der Mittel Seemer und Nieder Seemer ganz separiert worden ist „ (Köttner, 1951). Der damalige Pfarrer war Johann Gebhard Nies, verstorben am 23. März 1753 im Alter von 67 Jahren und vor dem Altar beerdigt.
Im Jahr 1764 wird eine große Renovierung und Vergrößerung an der Kirche vorgenommen, die oberen Emporen und die Orgel werden eingebaut. Von der bei dieser Renovierung angeschafften Orgel stammt der reich verzierte Orgelprospekt mit Engeln und einem Herz im Strahlenkranz. Dazu kommt die älteste Glocke mit 190 kg und dem Ton fis in den Glockenturm.
Kurz nach dieser Renovierung am 27.06.1767 wird Ober-Seemen von einem schweren Hagelunwetter heimgesucht. In Chronik heißt es, dass der Kirchturm von der erneuerten Kirche heruntergerissen und zu Boden geworfen wurde (Köttner, 1951).
Bis in die 1990iger Jahre wurde diesem Tag als „Hagelfeiertag“ mit Gottesdienst gedacht.
Dieses Unwetter bedingte einen erneuten Aufbau des Kirchturms 1790, belegt durch Holzdatierungen (Reck, 2010).
Es folgt die größte Glocke mit 480 kg und dem Ton b in den Turm. 1840 wurde eine kleine Glocke mit 78 kg und dem Ton cis ergänzt. Diese musste dann im 1. Weltkrieg abgeliefert werden und wurde 1930 durch eine Glocke mit 250 kg und dem Ton c ersetzt.
Bei einer größeren Renovierung im Jahre 1866 wurde das Gestühl im Kirchenschiff in der Form aufgestellt wie es heute noch zu sehen ist. Es fand dabei eine Verlegung des mittleren Kirchenganges statt. Um die Frauenplätze in den freien Raum zu bringen, wurden die Frauenstühle in der Mitte aneinander gerückt und zwei schmale Gänge entlang den Wänden hergestellt. So wurde sichergestellt, dass sich keine Frau mehr den Blicken des Predigers, unterhalb der 1. Empore entziehen konnte (Köttner, 1951).
Unter Pfarrer Lahl wurde 1947 der Altar in den Chorraum gerückt und die Kanzel, die bis dahin hinter dem Altar im Chorraum stand, in die heutige Position rechts in Höhe der 1. Empore verlegt. Ergänzt wurde auch das ca. 1,80 m große Kruzifix hinter dem Altar. Es ist eine Arbeit des Lübecker Bildhauers Otto Flath (Flath). Die heutige Innenraum-Gestaltung erhielt die Kirche bei ihrer Renovierung 1974-1976 aufgrund von Erkenntnissen über das Aussehen in der Barockzeit. Im Chorraum wurden Malereien, vermutlich aus dem 14. Jahrhundert stammend, freigelegt.
In den Jahren 2012-2014 stand dann die grundlegende Sanierung des Glockenturms und des Kirchendaches an. Feuchtigkeitsschäden und das Entfernen von statisch entscheidenden Balken im Dach machten eine sofortige Sanierung notwendig. Dabei wurden im Dachgebälk ehemals vorhandene Gauben anstelle der bisherigen Dachfenster integriert.
1968 wird auf dem Gelände der Kirche das heutige Pfarrhaus mit Pfarrbüro und Gemeindehaus erbaut, denn das alte Pfarrhaus neben der Schule war nicht mehr bewohnbar. 1796 wird dieses alte Pfarrhaus in den Unterlagen aufgrund von Umbauten erwähnt, ist also deutlich älter.
Das Gemeindehaus wird für Übungsstunden des Kirchenchores genutzt, für den Kindergottesdienst, als Treffpunkt für den Handarbeitskreis „Spinnstub‘“, die Konfirmandenstunden, es trifft sich ein Frauenkreis, eine Krabbelgruppe, verschiedene musikalische Übungsstunden finden dort statt, sowie Kirchenvorstands-und Besuchsdienstkreistreffen als auch für gemeinsame Feiern wird der Raum genutzt.
Kurz vor Weihnachten findet auf dem Kirchengelände ein sehr beliebter kleiner Weihnachtsmarkt, veranstaltet durch die Ober-Seemer Vereine, statt. Mit zwei großen Konzerten in der Kirche treffen sich regelmäßig die vier Ober-Seemer Chöre zu einem Freundschaftssingen.
Das Dorf Ober-Seemen
1865 wurde der israelitischen Gemeinde gestattet, eine eigene Schule bzw. ein Gotteshaus zu errichten. Diese Synagoge steht heute noch inmitten des Dorfes, z.Zt. leer und davor jahrzehntelang zweckentfremdet.
Im Rahmen einer jährlichen Backwoche wird auch das einzige noch erhaltene Backhaus, betrieben vom Landfrauenverein, angeheizt und genutzt.
Ober-Seemen verfügt über eine relativ gute Infrastruktur. So gibt es einen Kindergarten, eine Grundschule für die 3 Seementalgemeinden, ein Lebensmittelgeschäft, eine Metzgerei, einen Verkaufsfiliale einer Gederner Bäckerei und zwei Gastronomiebetriebe. Aus der 1906 eröffneten Bahnlinie Stockheim – Gedern (1880) – Ober-Seemen - Grebenhain (1906) ist leider nur noch ein Radweg übrig geblieben. Dieser wertet Ober-Seemen touristisch auf, da dieser „Vulkanradweg“ direkt am Ort vorbei geht. Das Bild des landwirtschaftlich geprägten Ortes auf dem Land ist im Laufe der letzten 30 Jahre verloren gegangen.
Kleine Handwerksbetriebe, Dienstleister und Firmen im Baugewerbe, sowie zwei große Aussiedlerhöfe mit Milchviehhaltung und Biogasanlagen sorgen nun für Arbeitsplätze in Ober-Seemen. Der mit Abstand größte Arbeitgeber ist heute ein Gummi und Kunststoff verarbeitendes Unternehmen, das als Zulieferer der Autoindustrie tätig ist.
Der Ort verfügt über eine bunte Vereinslandschaft (Fußball -, Angelsport-, Gesangs-, Landfrauenverein, VDK, Obst und Gartenbauverein, Jagdgenossenschaft, VAG-Club, Freiwillige Feuerwehr) die das kulturelle und das soziale Miteinander erhalten und stärken, sowie aktive Jugendarbeit betreiben.
Dr. Anke Pilz, Kirchenvorsteherin und Küsterin, im Mai 2015
Literaturverzeichnis
Flath, O. 1906-1987, Holzbildhauer und Maler; erhielt 1981 das Bundesverdienstkreuz am Bande.
Köttner, Pfarrer (1951). Heimatbüchlein für das evangelische Dekanat Schotten.
Reck, D. H.-H. (2010). Bericht über bauhistorische Untersuchungen an den Dachwerken der Kirche Ober-Seemen.
Seipp, Karl (1950). Chronik Ober-Seemen .